Das hier vorgestellte Denk-Labor erschließt in sechs Stationen philosophische Perspektiven, Zusammenhänge und Herausforderungen für den europäischen Gedanken der Gegenwart. Sechs Miniaturen, die mit einfachen Materialien nachgebaut werden können, setzen sich mit der Thematik auseinander. Hintergrundinformationen werden durch Texte von und über Erasmus von Rotterdam zur Verfügung gestellt. Ein „Gedankenbogen“ nimmt individuelle Reflexionen auf und unterstützt den Austausch in der Projektgruppe.
Zielgruppe: Ab Jahrgangsstufe 9
Zeitumfang: Mind. 5 Unterrichtsstunden
Materialien:
Erasmus von Rotterdam (1466–1536) und seine theologischen, anthropologischen und friedensethischen Überlegungen stehen vielfach im Schatten Martin Luthers, obwohl er durchaus dem Kontext der reformatorischen Bewegung zuzurechnen ist. Seine Ideen wirken bis in die Gegenwart und sind nach wie vor von hoher Relevanz: So appelliert er in seiner Schrift Klage des Friedens aus dem Jahr 1517 an den vernunftbegabten Menschen, nicht hinter das Tier zurückzufallen, im Sinne der Menschlichkeit eine friedliche Gemeinschaft zu bilden und so die Welt zu verbessern. Diese Gemeinschaft wird bei Erasmus über Landesgrenzen hinaus gedacht, was ihn zu einer bedeutenden Grundfigur des europäischen Gedankens werden lässt. Seine Gedanken sollen im aktuellen Kontext eines als problematisch wahrgenommenen Europas reflektiert und diskutiert werden.
In Anlehnung an das von Michael Wittschier entwickelte Philosophie-Labor (Michael Wittschier, Philosophie-Labor, Ein außerunterrichtlicher Lern-, Erlebnis- und Begegnungsraum, in: Ethik und Unterricht 3/2014, Friedrich-Verlag, S. 50-54) soll das Denk-Labor durch verschiedene Impulse zu einer intensivierten Auseinandersetzung mit Erasmus führen. Der Projektentwurf eignet sich ab Jahrgangsstufe 9.
Für eine vertiefte Weiterarbeit bzw. als Vorbereitung für die Lehrkraft bietet sich eine Auseinandersetzung mit der Friedensschrift des Erasmus an:
Eine fächerübergreifende Zusammenarbeit mit den Fächern Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung ist empfehlenswert.
In der Auseinandersetzung mit Bildern, Situationen und Zitaten sollen Inhalte problemorientiert erfasst, diskutiert und reflektiert werden. Die hier vorgestellten sechs Stationen (siehe Abbildungen) können, den eigenen Möglichkeiten entsprechend, nachgebaut, umgestaltet und erweitert werden. Gestaltete Figuren- und Lege-Arrangements lösen dabei stärkere Impulse aus als einzelne Fotos. Die hier verwendeten Abbildungen sind deshalb lediglich als Ideengeber zu verstehen. Die Fotos stehen am Ende der Seite als Download zur Verfügung.
Alle Stationen setzen direkt bei der betrachtenden Person an. Eine fachliche Anbindung und Vertiefung erfolgt durch erläuternde Texte bzw. Links, die im Anschluss an die eigene Auseinandersetzung gelesen werden können. Die Ergebnisse der einzelnen Stationen stehen im Vorfeld nicht fest und können sich je nach Betrachter und Gruppe unterscheiden. Da die Stationen zum Nachdenken und zur Kommunikation anregen, bietet es sich an, die Gedanken zu jeder Station schriftlich festhalten zu lassen (z. B. auf dem bereitgestellten Gedankenbogen). Im Anschluss daran sollte ausreichend Zeit für den Austausch in der Lerngruppe zur Verfügung stehen.
Ablauf:
Erasmus bestimmt in seiner Friedensschrift den Menschen in Rekurs auf Aristoteles als einzig vernunftbegabtes Lebewesen. Diese Vernunft, die den Menschen zur Sprache befähigt und damit eine Grundlage für gelingende Gemeinschaft darstellt, ermöglicht moralische Handlungen (Erasmus spricht hier auch von tugendhaften Handlungen), die böse Begierden oder Gefühle unter Kontrolle halten können. Doch bemerkt Erasmus in seiner Schrift immer wieder, dass der Mensch diesen Aufwand scheue und sich lieber seinen Trieben und Begierden hingebe. Die von ihm aufgeworfene Frage, ob die Menschen in ihrem bestialischen Treiben nicht sogar die wildesten Tiere übertreffen, bejaht er schließlich nach einigen Überlegungen.
An dieser Station kann weiterführend Bezug genommen werden auf die Theorie des Menschen als Mängelwesen, wie sie von Arnold Gehlen formuliert wurde.
Erasmus fordert in seiner Friedensschrift von den Christen einen stärkeren Friedenswillen ein als von den übrigen Menschen. Diese Forderung geht für ihn aus der Bergpredigt – mit der Forderung nach Feindesliebe – (Mt 5,43-45) und dem Doppelgebot der Liebe (Lk 10,27) hervor. Beide sollten jeden gläubigen Menschen dazu veranlassen, nach Frieden statt nach Zwietracht zu streben. Jedoch beobachtet Erasmus, dass die Religion auch immer wieder zum Anlass für kriegerische Auseinandersetzung wurde. Er verurteilt alle historische Auseinandersetzungen, die religiös motiviert waren und schreibt, Christen hätten das Schwert bei jedem geringen Anlass gezogen. Dabei verkörpere Christus den Frieden an sich. Deshalb sei es Aufgabe der Christen, eine in Frieden lebende Weltgemeinschaft zu verwirklichen.
Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig schreibt über die Ideen des Erasmus zum Frieden:
Für geistige Menschen bedeutet also Entscheidung durch Waffen niemals moralische Lösung eines Konflikts; ausdrücklich erklärt Erasmus, daß im Kriegsfall die Geistigen, die Gelehrten aller Nationen ihre Freundschaft nicht aufzukündigen hätten. Ihre Einstellung darf niemals sein, die Gegensätze der Meinungen, der Völker, der Rassen und Klassen durch eifernde Parteilichkeit zu verstärken, unerschütterlich haben sie in der reinen Sphäre der Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu verharren. Ihre ewige Aufgabe bleibt, der „ungütigen, unchristlichen und thierisch wilden Unsinnigkeit des Krieges“ die Idee der Weltgemeinsamkeit und Weltchristlichkeit entgegenzusetzen. Nichts wirft Erasmus der Kirche, als der höchsten moralischen Stätte, darum heftiger vor, als daß sie die große augustinische Idee des „christlichen Weltfriedens“ um irdischer Machterhöhung willen preisgegeben habe. „Es schämen sich die Theologen und die Meister des christlichen Lebens nicht, Hauptanfacher, Entzünder und Beweger der Sache gewesen zu sein, die der Herr Christus so groß und sehr gehaßt hat“, ruft er zornig aus und: „Wie kommt der Bischofsstab und das Schwert zusammen, der Bischofshut und der Helm, das Evangelium und der Schild? Wie geht es an, Christus zu predigen und den Krieg, mit einer einzigen Trompet Gott und den Teufel?“ Der „kriegerische Geistliche“ sei also nichts als Widersinn gegen Gottes Wort, denn er verleugne die höchste Botschaft, die ihm sein Herr und Lehrer zugesprochen, als er sagte: „Friede sei mit euch!“
http://gutenberg.spiegel.de/buch/triumph-und-tragik-des-erasmus-von-rotterdam-6861/7
In diesem Zusammenhang ist auch die Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2007 lesenswert. Ihre Argumentation weist Analogien zu der von Erasmus auf und verdeutlicht sie durch aktuelle Beispiele. Darüber hinaus wirft sie einen Blick auf die Utopie einer gerechteren Welt der Zukunft.
Erasmus gilt als Vorreiter des europäischen Gedankens. Er fragt in seiner Friedensschrift, weshalb der Mensch nicht schon eher bemerkt habe, dass das Leben in einer alle Grenzen überschreitenden Gemeinschaft weitaus tröstlicher und förderlicher wäre als eine Welt, in der sich jeder vom anderen abgegrenzt. Das Leben der Menschen sei, so Erasmus, ohnehin von vielerlei Lasten beschwert. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Lasten könne durch eine im Frieden zusammenlebende Gemeinschaft überwunden werden.
Stefan Zweig schreibt dazu:
Einen wunderbaren Augenblick lang ist Europa einig in dem humanistischen Wunschtraum einer einheitlichen Zivilisation, die mit einer Weltsprache, einer Weltreligion, einer Weltkultur der uralten, verhängnisvollen Zwietracht ein Ende machen sollte, und dieser unvergeßliche Versuch bleibt denkwürdig gebunden an die Gestalt und den Namen des Erasmus von Rotterdam.
http://gutenberg.spiegel.de/buch/triumph-und-tragik-des-erasmus-von-rotterdam-6861/7
Stefan Zweig über Erasmus‘ Sicht auf den Krieg:
„Wenn die Tiere einander anfallen“, klagt er, „so verstehe ich es und verzeihe es ihrer Unwissenheit“, aber die Menschen müßten erkennen, daß der Krieg an sich schon notwendigerweise Ungerechtigkeit bedeute, denn er trifft gewöhnlich nicht diejenigen, die ihn anfachen und führen, sondern fast immer falle seine ganze Last auf die Unschuldigen, auf das arme Volk, das weder von Siegen noch von Niederlagen zu gewinnen habe. „Der meist Teil erreicht die, die der Krieg gar nichts angeht, und selbst wenn es im Kriege auf das allerbeste glückt, so ist doch die Glückseligkeit eines Teils der andern Schad und Verderben.« Die Idee des Krieges sei also niemals mit der Idee der Gerechtigkeit zu verbinden, und dann – so fragt er abermals –, wie könne überhaupt ein Krieg gerecht sein?“
http://gutenberg.spiegel.de/buch/triumph-und-tragik-des-erasmus-von-rotterdam-6861/7
Erasmus formulierte im 16. Jahrhundert einen Traum, der Ende des 20. Jahrhundert (zumindest in Teilen) in die Tat umgesetzt wurde. Doch vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in Europa steht die Europäische Union derzeit vor einem Scheideweg. Dass der Mensch eine so wertvolle Errungenschaft wieder aufs Spiel setzt, begründet Erasmus mit den bereits in Station 1 genannten anthropologischen Konstanten. Er führt uns somit vor Augen, dass ein bereits erreichter Fortschritt keineswegs als selbstverständlich gelten darf und die Idee eines friedlichen Zusammenlebens immer wieder aufs Neue verteidigt werden muss.
Der folgende Informationstext vertieft die Auseinandersetzung mit der zukünftigen Entwicklung Europas: https://www.bpb.de/internationales/europa/europa-kontrovers/182478/einleitung
Abschließend kann eine eigene Denk-Station zu Fragen des „Europäischen Gedankens“ und zu Erasmus von Rotterdam entwickelt werden. Dabei können weiterführende Fragen und Probleme formuliert, vorhandene Themen vertieft oder neue Schwerpunkte gesetzt werden. Ziel ist es, Impulse (z. B. Texte, Bilder, Settings etc.) für eine weitere Auseinandersetzung bereitzustellen und dafür passende Texte bzw. Links zu recherchieren. Den gestalterischeren Ideen der Schülerinnen und Schülern sind beim Aufbau der Station keine Grenzen gesetzt. Auch ein Einsatz unterschiedlicher Medienarten ist möglich.
Frei zugängliche Texte von und über Erasmus von Rotterdam finden sich unter: gutenberg.spiegel.de/autor/erasmus-von-rotterdam-1457
Projektidee und Arrangement: Pauline Scheidt